Der Wert der Zeit

Ein typisches Taxi aus New York

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Weihnachten 2021. Im 2. Jahr der Pandemie.

Normalerweise Zeit für Weihnachtsgeschichten. Danach ist mir nicht.

Stattdessen schenke ich Ihnen eine Geschichte.

Über den Wert der Zeit.

Sie ist nicht von mir sondern von einem New Yorker Taxifahrer.

Wir alle können eine Lehre fürs Leben daraus ziehen – wenn wir dafür bereit sind.

 

Die Geschichte eines New Yorker Taxifahrers

 

Ich wurde zu einer Adresse bestellt und wie gewöhnlich hupte ich als ich ankam. Doch kein Fahrgast erschien.

Ich hupte erneut. Nichts. Noch einmal. Nichts.

Eine grüne Haustür

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Meine Schicht war fast zu Ende, dies sollte meine letzte Fahrt sein. Es wäre leicht gewesen, einfach wieder wegzufahren. Ich entschied mich dagegen, parkte den Wagen und ging zur Haustür.

Kaum hatte ich geklopft, höre ich eine alte gebrechliche Stimme sagen:

„Bitte, einen Augenblick noch!“

Durch die Tür hörte ich, dass offensichtlich etwas über den Hausboden geschleift wurde. Es verging eine Weile, bis sich endlich die Tür öffnete.

Vor mir stand eine kleine alte Dame, bestimmt 90 Jahre alt. Sie trug ein mit Blümchen bedrucktes Kleid und einen dieser Pillbox Hüte mit Schleier, die man früher immer getragen hat. Ihre gesamte Erscheinung sah so aus, als wäre sie aus einem Film der 40iger Jahre entsprungen. In ihrer Hand hielt sie einen kleinen Nylon Koffer.

Da die Tür offen war, konnte ich nun auch in die Wohnung spinksen. Die Wohnung sah aus, als hätte hier über Jahre niemand mehr gelebt. Alle Möbel waren mit Tüchern abgedeckt. Die Wände waren völlig leer – keine Uhren hingen dort. Die Wohnung war fast komplett leer – kein Nippes, kein Geschirr auf der Spüle, nur hinten in der Ecke sah ich etwas. Einen Karton, der wohl mit Fotos und irgendwelchen Glas-Skulpturen bepackt war.

„Bitte, junger Mann, tragen Sie mir meinen Koffer zum Wagen?“ sagte sie.

Ich nahm den Koffer und packte ihn in den Kofferraum. Ich ging zurück zur alten Dame, um ihr bei Gang zum Auto ein wenig zu helfen. Sie nahm meinen Arm und wir gingen gemeinsam in Richtung Bürgersteig, zum Auto. Sie bedankte sich für meine Hilfsbereitschaft.

„Das ist nicht der Rede wert,“ antwortete ich ihr, „ich behandle meine Fahrgäste schlicht genauso, wie ich auch meine Mutter behandeln würde.“

„Oh, Sie sind wirklich ein vorbildlicher junger Mann,“ erwiderte sie.

Als die Dame in meinem Taxi Platz genommen hatte, gab sie mir die Zieladresse, gefolgt von der Frage, ob wir denn nicht durch die Innenstadt fahren könnten.

Wie die Zeit vergeht

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„Nun, das ist aber nicht der kürzeste Weg, eigentlich sogar ein erheblicher Umweg,“ gab ich zu bedenken.

„Oh, ich habe nichts dagegen“, sagte sie. „Ich bin nicht in Eile. Ich bin auf dem Weg in ein Hospiz.“

Ein Hospiz? schoss es mir durch den Kopf. Scheiße, Mann! Dort werden doch sterbenskranke Menschen versorgt und beim Sterben begleitet.

Ich schaute in den Rückspiegel, schaute mir die Dame noch einmal an.

„Ich hinterlasse keine Familie,“ fuhr sie mit sanfter Stimme fort. „Der Arzt sagt, ich habe nicht mehr sehr lange.“

Ich schaltete das Taxameter aus. „Welchen Weg soll ich nehmen?“ fragte ich.

Eine alte Frau erzählt aus ihrem Leben

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Für die nächsten zwei Stunden fuhren wir einfach durch die Stadt.

Sie zeigte mir das Hotel, in dem sie einst an der Rezeption gearbeitet hatte. Wir fuhren zu den unterschiedlichsten Orten. Sie zeigte das Haus, in dem sie und ihr verstorbener Mann gelebt hatten, als noch ein „junges, wildes Paar“ waren. Sie zeigte mir ein modernes neues Möbelhaus, dass früher „ein angesagter Schuppen“ zum Tanzen war. Als junges Mädchen habe sie dort oft das Tanzbein geschwungen.

An manchen Gebäuden und Straßen bat sie mich besonders langsam zu fahren. Sie sagte dann nichts. Sie schaute einfach nur aus dem Fenster und schien mit ihren Gedanken noch einmal auf eine Reise zu gehen.

Hinter dem Horizont kamen die ersten Sonnenstrahlen.

Waren wir tatsächlich die ganze Nacht durch die Stadt gefahren?

„Ich bin müde,“ sagte die alte Dame plötzlich. „Jetzt können wir zu meinem Ziel fahren.“

Schweigend fuhren wir zur Adresse, die sie mir am Abend gegeben hatte.

Auffahrt Hospiz (Geschichte)

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Das Hospiz hatte ich mir viel größer vorgestellt. Mit seiner Mini-Einfahrt wirkte es eher wie ein kleines freundliches Ferienhaus. Jedoch stürmte kein verkaufwütiger Makler aus dem Gebäude, sondern zwei eilende Sanitäter, die – kaum hatte ich den Wagen angehalten – die Fahrgasttüre öffneten. Sie schienen sehr besorgt. Sie mussten schon sehr lange auf die Dame gewartet haben.

Und während die alte Dame im Rollstuhl Platz nahm, trug ich ihren Koffer zum Eingang des Hospiz.

„Wie viel bekommen Sie von mir für die Fahrt?“ fragte sie, während sie in ihrer Handtasche kramte.

„Nichts,“ sagte ich.

„Sie müssen doch Ihren Lebensunterhalt verdienen,“ antwortete sie.

„Es gibt noch andere Passagiere,“ erwiderte ich mit einem Lächeln.

Ohne lange darüber nachzudenken, umarmte ich sie. Sie hielt mich ganz fest an sich.

„Sie haben einer alten Frau auf ihren letzten Metern noch ein klein wenig Freude und Glück geschenkt. Danke.“ sagte sie mit glasigen Augen zu mir.

Ich drückte ihre Hand und ging dem trüben Sonnenaufgang entgegen.

Hinter mir schloss sich die Tür des Hospiz. Es klang für mich wie der Abschluss eines Lebens.

Meine nächste Schicht hätte jetzt beginnen sollen, doch ich nahm keine neuen Fahrgäste an. Ich fuhr einfach ziellos durch die Straßen – völlig versunken in meinen Gedanken. Ich wollte weder reden noch jemanden sehen.

Was wäre gewesen, wenn die Frau an einen unfreundlichen und mies gelaunten Fahrer geraten wäre, der nur schnell seine Schicht hätte beenden wollen? Was wäre, wenn ich die Fahrt nicht angenommen hätte? War wäre, wenn ich nach dem ersten Hupen einfach weggefahren wäre?

Wenn ich an diese Fahrt zurück denke, glaube ich, dass ich noch niemals etwas Wichtigeres im Leben getan habe. In unserem hektischen Leben legen wir besonders viel Wert auf die großen, bombastischen Momente. Größer. Schneller. Weiter. Dabei sind es doch die kleinen Momente, die kleinen Gesten, die im Leben wirklich etwas zählen. Für diese kleinen und schönen Momente sollten wir uns wieder Zeit nehmen.

Wir sollten wieder Geduld haben – und nicht sofort hupen – dann sehen wir sie auch.

[ Aus dem Englischen übersetzt von Markus Brandl ]

 

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Sinah Altmann

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Seit fast 30 Jahren lebt und lehrt Sinah Altmann die Erfolgsstrategie Löhn-Methode. Mit den Jahren – und somit der Verknappung der Ressource Zeit – verbindet sie die LöhnMethode mehr und mehr mit den Sinn-Ansätzen der Logotherapie und Existenzanalyse des Wieners Viktor Emil Frankl.

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